Composer, pianist, sound artist!
Samstag, 13. Mai, kurz vor 20 Uhr, Nicolaihaus Unna: Für meine Frau Andrea (E-Bass) war es ein spannender Moment. Sie sollte Ulrike Haage (Piano und mehr) wiedersehen. Beide haben sich in Hamburg – glaube ich – 1979 kennen gelernt, als Ulrike für ihre Frauenband eine Bassistin suchte. Ulrike studierte damals Musik und Musiktherapie, Andrea Grafik. Oder suchte Andreas Band eine Keyboarderin, ich weiß es auf einmal nicht mehr. Aber egal. Die Musik hat die beiden zusammengeführt. Die Namen dreier Frauenbands nannte mir Andrea, in denen die beiden gemeinsam spielten: Cocktail, Miss Takes, Summet Sun Band. Ulrike ist vier Jahre jünger als Andrea.
Man mochte sich damals offensichtlich, aber irgendwann verlor man sich aus den Augen. Ulrike ist ihren Weg weitergegangen, als Pianistin, als Komponistin, als Dozentin … Vielmehr wusste ich bis Samstag auch nicht.
Irgendwann kam Andrea mit der Nachricht, sie habe wieder Kontakt zu Ulrike, über Facebook. Und irgendwann hieß es, Ulrike käme nach Unna, zu einem Soloauftritt ins Nicolaihaus, mit eigenen Kompositionen. Natürlich wollten wir uns das nicht entgehen lassen, jeder von uns aus einem anderen Grund. Aber die will ich jetzt nicht auch noch erläutern.
Aber es gibt da zwischen Andrea und mir auch eine Schnittmenge. Das Nicolaihaus ist uns nicht fremd, wir waren schon oft dort, es bietet nur wenig Raum für Publikum. Das macht seinen Reiz aus. Musiker und Publikum begegnen sich auf Augenhöhe. Und so war es auch am Samstag.
Ich hatte mich bis dahin kaum mit Ulrikes Musik befasst. Einmal habe ich kurz in zwei oder drei Aufnahmen in Spotify hineingehört und stieß auf moderne Klaviermusik, eher minimalistisch. Minimalistische Musik mag ich. Soweit so gut. Aber aus der Spotify-Konserve? Am liebsten mag ich Musik live, wenn sie ohne digitale Zwischenspeicherung direkt über mein Trommelfell – und manchmal auch über mein Zwerchfell – mein Gehirn oder besser meine Seele erreicht. Deswegen singe ich im Chor und halte da auch manche anstrengende Probe aus, seit 16 Jahren in Unna und davor lange Jahre in Hamm. Am Ende eines Probenzyklus stand bisher immer – wirklich immer – ein Auftritt, nach dem ich sagen konnte: „Das war es. So war es gut.“ Ich hatte immer eine anspruchsvolle Chorleitung, mit allen Vor- und Nachteilen.
Im Rentenalter habe ich die Trompete wieder in die Hand genommen, auch um die Unmittelbarkeit des Klanges zu erleben. Nur fällt mir das Trompetenspeil ungleich schwerer als das Singen. Es geht nur langsam voran. Mein Trompetenlehrer Frank und ich, wir beide versichern uns immer wieder gegenseitig, dass wir Geduld haben. Aber Frank lobt dann doch hin und wieder meinen Ton, nennt ihn sogar schön. Es hapert jedoch an der Höhe und an der Ausdauer.
Zurück zu Ulrike Haage, die ich bis dahin auch nur von einem Bild her kannte (aber was heißt da schon kennen). Sie begann pünktlich. Der Raum war gut gefüllt. Wir haben ihn schon leerer gesehen. Damit war Andreas Sorge, Ulrike würde vor leeren Stühlen spielen, schon mal vom Tisch, meine noch nicht. Ich hatte Vadim Neselovsky (ebenfalls ein Pianist und Komponist, so richtig jazzig) im Ohr. Der beklagte sich einmal bitterlich bei einem Konzert, der Flügel sei fürchterlich verstimmt. Ich musste ihm das glauben. Gehört habe ich das damals nicht. Und ganz so schlecht ist mein Gehör nicht.
Um zumindest vier Plätze im Nicolaihaus zu besetzen, hatte Andrea unsere Freunde Gabi und Günter eingeladen mitzukommen. Das war sicherlich ein Wagnis, denn beide sind in vielen Dingen kritische Geister. Aber um es vorweg zu nehmen. Beide waren am Ende begeistert.
Ulrike stellte sich vor. Sie schilderte kurz ihre musikalische Entwicklung, aber nicht, in dem sie Stationen aufzählte. Es sei ein Strom gewesen, auf dem sie sich habe treiben lassen, der sie getragen habe und in dem sie nie versunken sei. Sie hat es anders formuliert, ich gebe so mit meinen Worten wieder. Nur meine ich, dass das ohne den Einsatz von körperlicher und geistiger Energie und ohne Zielstrebigkeit nicht geht. Vielleicht darf man einen Augenblick mal vergessen, wo man gerade ist, aber mehr auch nicht.
Ich glaube, sie gehört zu den Menschen, die es weitestgehend schaffen, unaufgeregt und achtsam durchs Leben zu gehen.
Natürlich berichtete sie über Arbeitsschwerpunkte. Einer davon ist die Filmmusik. Sie nannte den Doris-Dörrie-Film „Grüße aus Fukushima“. Ein weiterer Schwerpunkt sind Hörspielproduktionen.
Sie begann das Konzert mit einem Stück, dass ich wiederum als minimalistisch bezeichnen würde. Günter neben mir schaute schon skeptisch. Aber das änderte sich nach und nach.
Einige derjenigen, die diese Zeilen lesen, wissen, dass ich gerne über Konzerterlebnisse berichte, aber nicht im Sinne einer Musikkritik. Dazu fehlt mir das Rüstzeug. Ich schreibe darüber, wie ich ein Konzert erlebt habe, wobei mir da manchmal auch die Worte fehlen. Betrachtet bitte daher das, was jetzt kommt, unter diesem Gesichtspunkt.
Die Musik steigerte sich immer mehr. Sie war gewagt, aber für meine Ohren nicht atonal oder dissonant, auch wenn das nach der Notation hätte sein müssen. Wenige Male tauchten Akkorde auf, die man dem Jazz oder dem Rock zuordnen würde. Sie holte aus dem Flügel alles heraus, was herauszuholen war, aber ohne ihm Gewalt anzutun. Ich glaube, sie wollte ihm zeigen, dass mehr in ihm steckt als er selber glauben mag. Er wurde zum Rhythmusgerät, zum Synthesizer, zur Geräuschmaschine, aber auch zum Webstuhl für einen wunderschönen Klangteppich. Hin und wieder floss elektronische Unterstützung ein. Der elektronische Klang und der Klang die Flügel verbanden sich, bildeten eine Einheit.
Aber immer lag die Musik offen im Raum. Was ich damit meine? Jetzt wird es schwierig. Die Musik war durchsichtig, transparent, sie strebte vorwärts, ohne zu hetzten, sie war Wohlklang in der Dissonanz, alles schien seine Bedeutung zu haben, die Tempi stimmten und nicht zuletzt Ulrikes Spieltechnik. Es gab scheinbar nicht enden wollende Spannungsbögen. Immer hatte Ulrike wohl einen Gedanken oder eine Geschichte im Kopf, ein Bild vor Augen. Filmmusik!!! Man hörte sie durchklingen, aber es war kein Tatort oder kein Edgar Wallace.
Meine Sorgen um die Qualität des Flügels waren lange vergessen. Ulrike schien sich wohlzufühlen. Das kleine disziplinierte Publikum hörte wie gebannt zu. Der Zwischenapplaus war mehr als nur anerkennend. Es gab einmal die Situation, dass es den Menschen offenbar schwer fiel zu applaudieren. So sehr waren sie von der Musik gefangen. Es war nur ein Sekundenbruchteil, aber ein spannungsvoller.
Es gab keine Pause, für Ulrike gab es nur eine ganz kurze Unterbrechung für einen Schluck aus der Wasserflasche. Es erinnerte mich an meine Marathonläufe. Da waren Pausen auch nicht denkbar, wenn man die Spannung aufrechterhalten wollte, wenn man ins Ziel kommen wollte. Erst dort konnte man sich fallen lassen.
Ich habe mich damals übrigens oft gefragt, warum ziehen wir die Menschen, die am Straßenrand stehen und uns applaudieren, so in unseren Bann. Bei den großen Läufen waren es Tausende, ganz oft mit strahlenden Gesichtern. Ich weiß bis heute keine Antwort. Aber egal, ich habe es genossen.
Am Ende sprachen wir kurz mit Ulrike. Sie war angetan von dem kleinen Konzertraum im Nicolaihaus, von der guten Akustik und vom Publikum. Der Flügel – es ist ein Schimmel – sei ein guter Partner gewesen, die Stimmung nur in den unteren Lagen etwas fragwürdig. Ihre Augen strahlten. Sie strahlte auch Andrea an. Die beiden sprachen kurz über alte Zeiten, wie sollte es anders sein. Sie wollen in Kontakt bleiben. Das freut mich sehr. Sie sprachen auch kurz über Andreas musikalische Ambitionen. Andrea kennt meine Meinung, sie nutzt zu wenig ihr Talent, sie übt zu wenig. Das ist keine Kritik. Manchmal lähmt der Alltag. Mir rutschte spontan der Satz raus: „Ein Bass gehört in eine Band.“ Aber es tut sich was nach ihrem ersten Bandauftritt am Gründonnerstag im Schalander, den sie souverän gemeistert hat.
Den ersten Kontakt gab es zwischen den beiden schon am Sonntagmorgen, wieder per Facebook. Das war ein Grund mehr für mich, diesen Text zu schreiben.
Irgendwie kamen wir in unserem Gespräch auch auf Island zu sprechen, weil ich von Andrea gehört habe, dass Ulrike im Frühjahr dort war. Sie wird im nächsten Jahr wieder zwei Monate auf dieser kleinen wunderschönen Insel sein, die sie offenbar ähnlich begeistert wie mich. „Kommt doch einfach mal zu Besuch rüber“, war ihre Reaktion. Ich glaube, wir machen das.
Gabi und Günter waren schon gegangen. Wir trafen sie auf dem Alten Markt wieder. Beide waren von der Musik ähnlich berührt wie wir.
Günter hat ein gutes Langzeitgedächtnis, so wie Andrea. Ihm war wieder eingefallen, dass er Ulrike Haage doch kannte. Sie spielte lange Jahre bei den Rainbirds. eine deutsche Pop-/Rockband um die Sängerin Katharina Franck. Ich habe mal nachgeschaut, es war von 1990 bis 1999. Ich staune manchmal über das Erinnerungsvermögen von Günter und Andrea, wobei ich meine, das bessere Kurzzeitgedächtnis zu haben.