Im vergangenen Jahr habe ich die Sommerkonzertreihe im Münster von Bad Doberan kennen gelernt und bin damitd angefangen, über diese Konzerte zu berichten. Eigentlich wollte ich das in diesem Jahr sein lassen, denn das bedeutet immer eine kurze Nacht. Unter dem Eindruck eines Orgelkonzertes mit Martin Schulze habe ich diese Entscheidung revidiert. Ich werde doch wieder schreiben, es geht nicht anders. Es gibt viele Dinge, die es wert sind, über sie zu berichten.
Martin Schulze (evangelisch, verheiratet, 48 Jahre alt) war mir bisher nicht bekannt. Er wohnt mit seiner Familie in Frankfurt/Oder, ist ausgebildeter Kirchenmusiker und war auch als solcher aktiv. Seit 2011 arbeitet er freiberuflich, ist aber der Evangelischen Kirche noch als Orgelsachverständiger verbunden. Er gilt als Spezialist für alte Orgelmusik.
Er hat sich einen seltsamen Spitznamen erarbeitet. Man nennt ihn den Fahrradkantor. Er fährt mit dem Rad von Konzert zu Konzert. Ein gelbes Radtrikot, eine Radlerhose, eine Tasche mit etwas Wechselkleidung, seine Noten und natürlich sein Rennrad – mehr braucht er nicht. Übernachtet wird in Gemeindehäusern, in Pfarrstellen oder bei Freunden. Über 100 Konzerte gibt er jährlich, 15.000 Radkilometer im Jahr kommen da schnell zusammen. Seine nächste Etappe von Bad Doberan nach Marlow ist mit knapp 60 km eher kurz.
Spezialist für alte Orgelmusik, das wurde auch klar, wenn man in das Programm schaute. Johann Sebastian Bach (1685 – 1750) war der jüngste Komponist, der zu Gehör gebracht wurde. Am Anfang standen Werke von Dietrich Buxtehude (1637-1707). Dann folgten zwei Namen, die mir bis dahin vollkommen fremd waren, Nicolaus Hasse (1617-1672) und Franz Tunder (1614-1672). Jetzt weiß ich ein wenig über sie.
Aber bevor ich dazu komme, möchte ich noch eine Doberaner Besonderheit beschreiben. Die Münsterkirchengemeinde lässt es sich nicht nehmen, das Konzertpublikum, überwiegend Touristen, zu begrüßen. Die Begrüßungsworte aus dem letzten Jahr habe ich natürlich im Detail vergessen, geblieben ist eine positive Erinnerung. Immer ist es den Offiziellen der Münsterkirchengemeinde gelungen, eine kleine Geschichte zu erzählen und dabei einen Zusammenhang zu dem, was auf das Publikum zukam, herzustellen.
Nach den üblichen Floskeln wandte sich Redner diesmal in kurzen durchdachten Worten dem Thema Mobilität zu, mit einem Seitenblick auch auf den Fahrradkantor. Zu Bachs Zeiten sei eine machbare Tagesetappe so um die 25 km lang gewesen, heute schaffe man an einem Tag das Mehrfache mit dem Fahrrad und mit anderen Verkehrsmittel ein Vielfaches. Er rief dabei Bachs Reise von Arnstadt nach Lübeck (400 km) in Erinnerung, die dieser unternahm, um den großen Buxtehude zu hören und von ihm zu lernen. Seiner Schlussfolgerung, die heutige Zeit sei schnelllebiger und hektischer geworden, kann man sicherlich folgen. Ich denke aber auch, dass man nicht vergessen darf, dass das Reisen zu Bachs Zeit deutlich mühsamer war. Später habe ich nachgelesen, dass Bach zu Fuß unterwegs war.
Dann übernahm Martin Schulze das Wort und führte in das Programm ein. Er sagte dabei auch etwas zu Hasse und Tunder. Nicolaus Hasse war Organist in Rostock, das keine Tagesreise von Bad Doberan entfernt liegt. Von ihm sind gerade einmal vier Orgelwerke erhalten. Franz Tunder war Buxtehudes Vorgänger im Kantorenamt an St. Marien in Lübeck und dessen Schwiegervater. Unter dem Hinweis auf das Programm machte Schulze dann mit einem gewissen Schalk im Nacken dem Publikum klar, dass dort mehrmals ein Präludium in g genannt werde, dass es sich aber um ganz unterschiedliche Werke handele. Für mich war es wichtig, dass es vieles zu hören gab, in dem Choralthemen be- und verarbeitet wurden, davon vier Stücke aus Bachs Orgelbüchlein. Schön fand ich es, dass Schulze an zwei Jubiläen erinnerte. Vor 300 Jahren, im Jahre 1717, hat Bach die Arbeit an seinem Orgelbüchlein beendet. Vor 400 Jahren wurde der mir bisher unbekannte Nicolaus Hasse geboren.
Schulzes Informationen zu Hasse stehen im Widerspruch zu dem, was in Wikipedia nachzulesen ist. Diesen Widerspruch können und brauchen wir nicht auflösen.
Schulze trat in T-Shirt und Jeans auf. Beiden Kleidungsstücken sah man an, dass sie kurz zuvor noch in einer Fahrradtasche gesteckt haben.
Das Konzert war gut besucht. Es saßen geschätzt ca. 200 Leute auf den harten Kirchenbänken. Man erkannte dabei auf Anhieb, wer freiwillig da war und wer mitgeschleppt wurde. Ich war auch nicht allein. Wolfgang, ein Tischnachbar, 76 Jahre alt, aber doch irgendwie jung geblieben, war mitgekommen. Nach einem heftigen Sturz, einer komplizierten Hüft-Operation und einem insgesamt sechswöchigen Krankenhaus- bzw. Reha-Klinik-Aufenthalt war es sein erster Kontakt zur Außenwelt. Es fiel ihm nicht leicht. Aber er ist für die Zukunft guten Mutes.
Ihr wisst, bei der Bewertung von Kompositionen und der Leistung von Künstlern halte ich mich zurück. Dazu fehlt mir das Rüstzeug. Natürlich beherrschte Martin Schulze die Klaviatur der musikalischen Dramaturgie. Am Ende stand Bach mit dem Präludium und der Fuge in e-Moll, BWV 348. Und die Zugabe, deren Titel leider im Verborgenen blieb, setzte noch einen drauf.
Die Schuke-Orgel aus dem Jahre 1980 passt wunderbar in das Münster. Das ist allgemein anerkannt. Dass Martin Schulze ihre Möglichkeiten voll ausnutzen konnte, überraschte nicht. Es war immerhin sein 20. Konzert hier vor Ort.
Wolfgang fasste seinen Eindruck von dem Konzert, von Raum und Klang, in einem Wort zusammen: „Phantastisch.“ Dem habe ich nichts hinzuzufügen.